Bergheim (red). Einer vormittags, einer mittags, einer abends: Ganze drei Züge bildeten den ersten Fahrplan, als Bergheim Ende 1872 – vor 150 Jahren – Eisenbahnanschluss und damit einen Bahnhof erhielt. Doch die wenigen Halte brachten die weite Welt in das Dorf – und nicht nur dorthin. Bergheim war Verkehrsknotenpunkt auch für die nähere Region - von den Nachbardörfern bis hin zu Nieheim oder Vörden. Selbst die Detmolder stiegen hier 20 Jahre lang ein, denn die Residenzstadt hatte den Anschluss ans Gleis und die neue Zeit zunächst verpasst. Mit dem Themennachmittag „Bergheim versteht Bahnhof“ erinnert die Dorfwerkstatt Bergheim am 1. Oktober an die Zeitenwende – und fragt auch nach den Chancen für einen neuen Haltepunkt in Bergheim.

„Wir möchten das runde Jubiläum der Hannover-Altenbekener-Eisenbahn in diesem Jahr nutzen, um insbesondere den Jüngeren diese zentrale Epoche unserer Geschichte nahezubringen“, erläutert der 1. Vorsitzende der Dorfwerkstatt, Peter Müller. Die Generationen unter 50 Jahre würden den Bahnhof nur noch als zugewucherte Brache kennen – „und das ist schade“. Den Gegenstand ihres Themennachmittages möchte die Dorfwerkstatt laut Müller „unterhaltsam und spannend“ aufbereiten, dafür hat sie erneut Dr. Thomas Bauer mit ins Boot geholt.

Der Lokalhistoriker, im Hauptberuf Pressereferent an der Uniklinik Münster, erforscht seit Jahrzehnten die Geschichte seines Heimatdorfes. „Der dortige Bahnhof hat so viele Facetten, dass die für drei Vorträge reichen würden“, sagt Bauer. Er verweist auf den sozialen Wandel, der mit der Eisenbahn über die Region hereinbrach und Strukturen aufhob, die über Jahrhunderte hinweg nahezu unverändert geblieben waren: „Mit der Bahn kamen neue Berufe, neue Aufstiegschancen – und nicht zuletzt Fremde“. Das hieß: Die urkatholische Gegend musste sich an protestantische Neubürger gewöhnen.

Für die Wirtschaft bedeutete die mit der Eisenbahn geschaffene Mobilität einen Glücksfall und erwies sich als Magnet für Neuansiedlungen. Der Aufschwung prägt in Bergheim bis heute das Umfeld des Bahnhofes: Zwei große Sägewerke arbeiteten hier und ein großer Landhandel übernahm den An- und Verkauf bäuerlicher Produkte. Wer die Möglichkeiten des neuen Verkehrsmittels erkannte, hatte die Chance, gutes Geld zu verdienen – wie der jüdische Viehhändler Levi Eisenstein. Bauer fand in Archiven Belege, dass der nun nicht mehr Rinder auf Gut Wintrup verkaufte, sondern edle Kavalleriepferde bis nach Russland exportierte.

Dass der Bahnhof berühmte Gäste hatte und selbst Kaiser Wilhelm II. zu seinem Antrittsbesuch am fürstlichen Hof in Detmold über Bergheim anreiste, sei im öffentlichen Bewusstsein haften geblieben, so Bauer. Anderes hingegen nicht. Spannender findet er daher Anekdoten wie die zu den sonntäglichen Disco-Nachmittagen der 1960er Jahre, die ein Publikum aus einem Umkreis von 30 Kilometern anzogen: „Hier wurden schon die Rolling Stones gespielt, als die in den Kneipen der Region noch als Langhaarige verpönt waren“.

Immer hatte die Bahngeschichte auch dunkle Seiten. Schon unmittelbar nach dem Betriebsbeginn übte das Militär in Bergheim das schnelle Verladen von Regimentern – 1914 sollte aus den Manövern blutiger Ernst werden. Immer wieder ereigneten sich Unglücke, teils mit Todesfolge. 1942 wurde der Bahnhof zur Rampe in den Tod, als eine Gruppe von rund 20 Juden hier in den Deportationszug steigen musste. Im Weltkrieg war der Bahnhof mehrfach Angriffsziel alliierter Jagdbomber und nach 1945 vollgepfropfter Unterschlupf für Flüchtlinge und Vertriebene.

Das anschließende Wirtschaftswunder läutete den Niedergang ein - auch die Bergheimer zogen den eigenen „Käfer“ zunehmend der Dampflok vor. „Das Ende kam nicht abrupt, sondern war ein Tod auf Raten, der sich über 30 Jahre hinzog“, fasst Dr. Bauer die Entwicklung zusammen. Im Herbst 1990 hielt der letzte Zug am Bahnhof – dessen Empfangsgebäude schon 20 Jahre zuvor abgerissen worden war. Danach fiel das einst pulsierende Gelände in einen bis heute währenden Dornröschenschlaf.

Doch es tut sich etwas: Der einstige Bahnhofsvorplatz, heute ein Schandfleck an der Driburger Straße, wird Standort für ein neues Feuerwehrgerätehaus und mit dem Konzept „S-Bahn OWL“ des Zweckverbandes Nahverkehr Westfalen-Lippe ergeben sich Chancen für eine mögliche Reaktivierung von Bergheim als Haltepunkt. Die vielzitierte „Verkehrswende“ und das große Gewerbegebiet in direkter Nähe liefern Argumente dafür.

Der Themennachmittag „Bergheim versteht Bahnhof“ der Dorfwerkstatt beginnt um 15.00 Uhr im Bergheimer Pfarrheim; der Eintritt ist kostenlos. An die historische Einführung schließt sich eine Exkursion zum Bahnhofsgelände an – die mit einem besonderen Highlight aufwarten kann: „Die Teilnehmer erhalten bei der RLW – früher bekannt als Kornhaus Müller - eine Betriebsbesichtigung“, lädt Peter Müller Interessierte ein.

Fotos: Ulrich Frühling | Bauer